Mord im Seefeld: Versäumnisse und Fehleinschätzungen

Am 23.Juni 2016 ist ein wegen schwerer Delikte mehrfach (vor-)bestrafter Häftling nach einem eintägigen, unbegleiteten Hafturlaub nicht in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies zurückgekehrt. Der ehemalige Chef einer kriminellen Bande ist u.a. wegen Delikten wie der versuchten Sprengung eines Bancomaten in Deutschland, versuchter Nötigung, Erpressung und Raub, Widerhandlung gegen das Waffengesetz, Körperverletzung, Diebstahl, Pornografie etc. verurteilt. Eine Stunde nach Nichtrückkehr in die Haftanstalt sei die Kantonspolizei durch die zuständigen Strafvollzugsbehörden von der Absenz des Häftlings informiert worden. Wann und wie dann die Fahndung aufgenommen wurde, ist nicht bekannt. 

Gesichert ist, dass die zuständigen Behörden die Einleitung einer öffentlichen Fahndung mehr als neun Tage unterlassen haben.
Beim Flüchtigen handelt es sich um einen Schwerkriminellen. Er ist unter anderem auch für die Entführung eines Drogenhändlers in mafiamässiger Manier verurteilt. Das Opfer wurde – nachdem es sein eigenes Grab hatte schaufeln müssen – verletzt und gefesselt, nach Schüssen aus einer Schreckschusspistole, allein in einem Wald ob Winterthur im Schnee zurückgelassen. Anlässlich eines Berufungsprozesses vor dem Zürcher Obergericht erklärte der zuständige Richter, der geflohene Häftling habe sich nicht nur für eine Freiheitsberaubung, sondern «für das halbe Strafgesetzbuch», zu verantworten.
Der zu gesamthaft fünfeinhalb Jahren verurteilte Häftling befand sich seit August 2014 im vorzeitigen Strafvollzug. Im November 2014 ist er in die Justizvollzugsangstalt Pöschwies eingetreten. Der Endtermin seiner Strafe fällt auf den 3.Dezember 2019. Damit wären zwei Drittel der Strafe Ende 2017 verbüsst gewesen. Auf diesen Zeitpunkt wäre bei guter Führung, wie in der Schweiz Usus, mit der vorzeitigen Entlassung aus dem Strafvollzug zu rechnen gewesen.

Falsche Einschätzung
Gemäss Aussagen des Leiters des Amtes für Justizvollzug, Herr Thomas Manhart, wurde dem Häftling im Jahre 2016 bis dato zwei Mal begleiteter Hafturlaub und an besagtem 23.Juni 2016 das erste Mal unbegleiteter Hafturlaub (09.00– 21.00) gewährt. Der Flüchtige sei im Strafvollzug einmal positiv auf Cannabis getestet worden und in einem anderen Fall in ein Handgemenge verwickelt gewesen. Gemäss Aussagen von Herrn Manhart lagen die Justizvollzugsbehörden «mit der Einschätzung des Flüchtigen falsch».
Am 29.Juni 2016 – fast eine Woche später – wurde ein 43-jähriger Mann im Zürcher Seefeld-Quartier bestialisch ermordet. In der Nähe des Tatorts wurde ein 25-Jähriger verhaftet. Er befindet sich in Untersuchungshaft. Gemäss Aussage des für den Fall zuständigen Staatsanwaltes meldete die Forensik am Abend des 2.Juli 2016, es seien am Tatort Spuren einer weiteren Person, des Flüchtigen aus der Pöschwies, gefunden worden. Daraufhin wurde der flüchtige Häftling im Laufe des folgenden Tages, des 3.Juli 2016 – ergo 10 Tage nach seiner Flucht – öffentlich zur Fahndung ausgeschrieben.

Dringliche Anpassung von Bundesrecht
Dieser Fall belegt ein weiteres Mal, dass eine Verschärfung der Gesetzesgrundlagen für den Straf- und Massnahmenvollzug (Bundesrecht, Revision des Strafgesetzbuches), insbesondere was therapeutische Massnahmen, Hafturlaube und vorzeitige Entlassungen betrifft, überfällig ist. Die Revision soll endlich – ohne Wenn und Aber – von den bürgerlichen Kräften in Bern zügig und zielgerichtet an die Hand genommen werden!

Versäumnisse seitens des Amtes für Justizvollzug
Der Amtsleiter gibt zu, dass sein Amt mit der Einschätzung des Flüchtigen falsch lag. Es ist nicht nachvollziehbar, dass einem verurteilten Straftäter, insbesondere einer Person mit dem kriminellen Palmares des Flüchtigen und vor dem Hintergrund von dessen Cannabis-Konsum im Strafvollzug, schon nach einem Drittel verbüsster Haftstrafe unbegleiteter Hafturlaub gewährt wird! Es ist auch überhaupt nicht nachvollziehbar, weshalb im Kanton Zürich nach bewilligten Hafturlauben aus dem geschlossenen Vollzug und keiner Rückkehr innerhalb einer Woche (2015: 2  Fälle, siehe Statistik Tagesanzeiger vom 6.7.2016) sowie aufgrund schon fast regelmässiger, längerer Absenzen nach bewilligten Hafturlauben aus dem offenen Vollzug (2015: 43 Fälle, gleiche Statistik), die verantwortliche Justizdirektorin es scheinbar unterlassen hat, die höchst fragwürdigen, geltenden Urlaubsregelungen einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen. Die sich stellenden Fragen zu den Verantwortlichkeiten im Amt für Justizvollzug und daraus folgend die sich aufdrängende Forderung nach personellen Konsequenzen müssen dringlich durch die zuständige kantonsrätliche Kommission für Justiz und Sicherheit (KJS) erörtert werden. Aufgrund der offensichtlichen Gefährdung der Öffentlichen Sicherheit in unserem Kanton ist die Einsetzung einer Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) zum Zürcher Straf- und Massnahmenvollzug in Erwägung zu ziehen. Und es muss der Auftrag ergehen, die geltenden Richtlinien und Empfehlungen zum Straf- und Massnahmenvollzug des Ostschweizerischen Strafvollzugskonkordates einer grundlegenden Überprü­ fung zu unterziehen.
Was die (schwierige) Einschätzung des Flüchtigen durch die psychiatrische Forensik betrifft, so scheint diese – insbesondere vor dem Wissenshintergrund um die Grausamkeit der Tat in einem Winterthurer Wald – versagt zu haben. Und somit stellen sich auch zur Arbeit der psychiatrischen Forensik in der Zürcher Justizvollzugsanstalt Pöschwies und den Gefängnissen im Kanton Zü­ rich ganz grundsätzliche Fragen.

Gravierende Versäumnisse bei der Fahndung
Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb eine öffentliche Fahndung nach einem Schwerkriminellen erst neun Tage nach dessen Flucht und einem Mord eingeleitet wurde. Wurde auf eine öffentliche Fahndung aus politischer Räson verzichtet? Es ist nicht davon auszugehen. Die Justizdirektorin, Frau Regierungsrätin Jacqueline Fehr (SP), war ab  dem Morgen des 24.Juni von der Flucht im Bilde. Und was tat die Magistratin? Trotz Wissen um die Flucht eines Schwerkriminellen aus der in ihrem Verantwortungsbereich liegenden Zürcher Justizvollzugsanstalt plä­ dierte die Regierungsrätin höchst öffentlichkeitswirksam und mithilfe des grössten Schweizerischen Boulevardblattes für die teilweise Abschaffung und Änderung des geltenden Stimmund Wahlrechts.
Gemäss Aussagen von Frau Justizdirektorin Fehr ist die Kantonspolizei (diese ist ihrem SP-Parteikollegen, Regierungsrat Mario Fehr unterstellt) für die Fahndung nach Kriminellen zuständig. Die Justizdirektion verfüge über keine Weisungsbefugnis. Das schliesst aber nicht eine reibungslose Kommunikation zwischen den beiden Direktionsvorstehern respektive zwischen dem Amt für Justizvollzug und der Kantonspolizei aus – und dazu stellen sich ganz elementare Fragen!

Fazit
Zum vierten Mal innerhalb Jahresfrist (nach Suizid Fall Flaach, Gefängnisausbruch Dietikon, Ermessensüberschreitung und Falschplatzierung eines jungen Täters) ist es im Zusammenhang mit dem Justizvollzug im Kanton Zü­ rich zu Fehleinschätzungen und Versäumnissen gekommen.
Die Bildung einer parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) ist zu erwägen. Personelle und organisatorische Konsequenzen im Amt für Justizvollzug (Direktion Justiz und Inneres) erscheinen unumgänglich. Die Justizdirektorin und der Polizeidirektor (beide SP) haben der zuständigen parlamentarischen Kommission Justiz und Sicherheit (KJS) des Kantonsrates betreffend Kommunikation und Koordination zwischen dem Amt für Justizvollzug und der Kantonspolizei und zur Frage der Einleitung von Öffentlichkeitsfahndungen Rede und Antwort zu stehen. Das Ostschweizerische Strafvollzugskonkordat und dessen Richtlinien und Empfehlungen zum Straf- und Massnahmenvollzug sind einer grundsätzlichen Überprüfung – insbesondere auch aus Sicht der Öffentlichen Sicherheit – zu unterziehen.