Kantonsrat Hans-Peter Amrein fordert Untersuchung durch die Finanzkontrolle

– az Limmattaler Zeitung, 01.09.18

Doppelrollen und Interessenkonflikte beim neuen Zürcher Notfalltelefon. Die Standesorganisation, die die Notfallnummer im Auftrag des Kantons betreibt, ist eng mit der privaten Firma SOS-Ärzte verstrickt, der sie einen Teil des Staatsauftrags weitergereicht hat. Kantonsrat Hans-Peter Amrein fordert eine Untersuchung durch die Finanzkontrolle.

36,5 Millionen Franken. So viel Steuergeld erhält die Ärztegesellschaft des Kantons Zürich für den Betrieb einer medizinischen Telefonzentrale über fünf Jahre. Auf ihre neue Nummer können seit dem 1. Januar 2018 Menschen anrufen, deren Fall nicht genug dringend ist für die Sanität, aber trotzdem nicht bis morgen warten kann. Die Ärztegesellschaft ist eine Standesorganisation, in der praktisch alle Zürcher Ärzte Mitglied sind.

Der andere Akteur in dieser Geschichte sind die SOS-Ärzte. Ein privates, gewinnorientiertes Unternehmen, das mit Hausbesuchen durch angestellte Ärzte massgeblich sein Geld verdient. In sieben von zwölf Bezirken des Kantons erhalten die SOS-Ärzte von der neuen Telefonzentrale exklusiv die Hausbesuchs-Aufträge. Ausserdem hat die Standesorganisation Teile des Staatsauftrags an die SOS-Ärzte weitergereicht und bezahlt ihnen dafür Geld aus dem Portemonnaie des Zürcher Steuerzahlers.

Jetzt zeigt eine Recherche dieser Zeitung: Die Ärztegesellschaft und die SOS-Ärzte sind personell eng verstrickt. Ohne die SOS-Ärzte, seit 1996 ein erfolgreiches Unternehmen, wäre die Standesorganisation vielleicht gar nie an die Geldtöpfe des Steuerzahlers gekommen. Und die SOS-Ärzte selbst auch nicht.

Rückblende ins Jahr 2015. Der CVP-Kantonsrat Josef Widler wird Präsident der Zürcher Ärztegesellschaft. Zu diesem Zeitpunkt ist der Notfalldienst des Kantons Zürich unübersichtlich. Es gibt 25 verschiedene Nummern. Im Limmattal und in der Stadt Zürich ist alles in Ordnung. Dort betreibt Zürimed, der Ärzteverband der Bezirke Dietikon und Zürich, das Ärztefon. Die Gemeinden bezahlen pro Einwohner rund 2.20 Franken für die Dienstleistung – es funktioniert. Viele andere Gemeinden und Bezirke, sowie einzelne Ärzte, haben Verträge mit den SOS-Ärzten, damit diese Hausbesuche übernehmen.

Gab es einen Kredit?

Dann tritt CVP-Kantonsrat Widler auf den Plan. Unter seiner Ägide gründet die Standesorganisation eine Aktiengesellschaft, der Widler als Verwaltungsratspräsident vorsteht: die AGZ Support AG. Mit ihr will Widler Geld akquirieren, um den Notfalldienst neu zu organisieren. Geschäftsführer wird Thomas Biedermann. Vier Tage zuvor erhielt dieser die Zeichnungsberechtigung bei den SOS-Ärzten. Er ist also auf beiden Seiten in führender Stellung engagiert.

Quellen, die mit der Materie gut vertraut sind, sagen: Die SOS-Ärzte hätten der AGZ Support AG damals einen Kredit gegeben. Widler bestreitet dies auf Anfrage vehement.
Ob Kredit von den SOS-Ärzten oder nicht: Widler fordert als Präsident der Standesorganisation von jeder Gemeinde zehn Franken pro Einwohner pro Jahr für die Notfalldienstversorgung. Mit der neuen Firma AGZ Support AG will aber fast keine Gemeinde einen Vertrag abschliessen. Bis Dezember 2016 willigt nur Fehraltorf ein. Also braucht es Druck. Für den sorgen die SOS-Ärzte: Sie künden ihre Verträge mit Gemeinden, Bezirken und Ärzten, um die Ärztegesellschaft zu unterstützen.

Von Erpressung spricht der Verband der Zürcher Gemeindepräsidenten kurz darauf. Wer vermutet, dass die SOS-Ärzte als gewinnorientierte Firma hofften, dadurch schlicht mehr Geld zu verdienen, dem widerspricht Camillo Amodio, einer der beiden Verwaltungsräte der SOS-Ärzte. Er sagt auf Anfrage: «Wir wollten mit der Standesorganisation Ärztegesellschaft einen einzigen Ansprechpartner haben anstatt viele verschiedene.»

Nach der Vertragskündigung passiert öffentlich lange gar nichts. Bis Gesundheitsdirektor Thomas Heiniger (FDP) im Juli 2017 vor der Presse die Einigung zwischen dem Kanton, den Gemeinden und Widlers Standesorganisation verkündet, die heute nach einer Änderung des Gesundheitsgesetzes durch den Kantonsrat im Wesentlichen gültig ist. Für die nächsten fünf Jahre soll die Standesorganisation 36,5 Millionen Franken erhalten. Die genaue Zahl ergibt sich daraus, wie viele Anrufe die Telefonzentrale bearbeitet. Die Hälfte des Geldes kommt vom Kanton, die andere von den Gemeinden. Fast zwei Jahre hatte Widler hartnäckig lobbyiert. Er wurde zwar von 10 auf nun etwa 4.80 Franken pro Einwohner heruntergehandelt. Doch er war am Ziel. Zurück ins Jetzt: Zwischen der Tochter der Standesorganisation und den SOS-Ärzten bestehen mehrere Verträge. Der genaue Inhalt ist unbekannt. Widler will sie auf Anfrage nicht herausgeben: «Geschäftsgeheimnis».

Doch was in etwa darin stehen muss, zeigt eine online einsehbare Powerpoint-Präsentation. Robert Frey, Geschäftsleitungsmitglied der AGZ Support AG, hat sie im Juni an der Generalversammlung von Zürimed, dem Ärzteverband von Dietikon und Zürich, gehalten.
In der Telefonzentrale nimmt zwar ein Telefonist der AGZ Support AG, die Tochterfirma der Standesorganisation, den Anruf an. Er entscheidet laut Widler häufig selbst, ob ein Hausbesuch notwendig ist. Die Verantwortung für diese Entscheidung liegt aber immer bei einem Arzt. Tagsüber ist dieser bei der AGZ Support AG angestellt. Zwischen 22 und 7 Uhr in der Nacht übernimmt aber ein Kollege der SOS-Ärzte seinen Job. Dieser SOS-Mann hat also die Entscheidungsgewalt, ob sein Arbeitgeber einen Hausbesuch mehr machen kann oder nicht – während die SOS-Ärzte wegen ihres Geschäftsmodells ein Interesse an möglichst vielen Hausbesuchen haben.

Widler sieht keinen Interessenkonflikt: «Uns würde auffallen, wenn es während dieser Zeit zu ungewöhnlich vielen Hausbesuchen kommen würde. Das ist nicht der Fall», sagt er. Man habe schlicht noch keine anderen Ärzte gefunden, die diese Schicht machen wollten. Die bei den SOS-Ärzten angestellten Triageärzte unterlägen ausserdem wie alle anderen der Weisung des betrieblichen Leiters der AGZ Support AG, der Tochtergesellschaft der Standesorganisation.

Höhere Pauschale in der Nacht

Für das Bereitstellen von Ärzten, die in der Nacht in der Zentrale Dienst tun, erhalten die SOS-Ärzte indirekt Geld aus der Zürcher Staatskasse. Die Vergütung für das Behandeln der Patienten kommt noch hinzu. Diese besteht aus mehreren Teilen: Eine davon ist die Notfallpauschale. Zwischen 22 und 7 Uhr ist sie 3,5-mal so hoch wie tagsüber.

Auch am Tag sind die SOS-Ärzte an den Hausbesuchen mitbeteiligt. Sie teilen die Patienten den Ärzten zu – auch sich selbst – und werden fürs Zuteilen mit Steuergeld entschädigt. Von den zwölf Bezirken im Kanton Zürich führen ausser bei Engpässen grundsätzlich in sieben die SOS-Ärzte die Hausbesuche durch. In den anderen eine lose Gruppe von Allgemeinärzten. Widler sagt: «Ohne die Zusammenarbeit mit den SOS-Ärzten ist auf lange Sicht die Versorgung gefährdet, weil es immer weniger Hausärzte gibt.»

In der Ärzteschaft wird kolportiert, für das Stellen des Arztes in der Nacht in der Zentrale und das Zuteilen der Patienten, würde die Standesorganisations-Tochterfirma zu viel bezahlen. Die SOS-Ärzte würden also bevorteilt. Widler widerspricht: «Die Verträge sind fair. Ausserdem gibt es keine anderen Anbieter — so froh ich darüber auch wäre.» Er verweist auf die Gesundheitsdirektion, die alle Verträge gesehen und geprüft habe. Diese sagt aber auf eine konkrete Frage nur, man habe die Kosten, die die Standesorganisation für den Aufbau des Betriebs geltend machte, selbst genau geprüft und anschliessend von einem externen Wirtschaftprüfungsunternehmen prüfen lassen.

Nachdem die SOS-Ärzte den besagten Doppelfunktionär Thomas Biedermann im Februar 2017 aus dem Handelsregister austragen liessen, wurde Jan Röhmer eingetragen. Auf den schon genannten Powerpoint-Folien – und das ist die vorerst letzte bekannte Verstrickung – taucht dieser Jan Röhmer als Ärztlicher Leiter der AGZ Support AG, also der Tochterfirma der Standesgesellschaft wieder auf. Widler sagt: «Diesen Interessenkonflikt nehme ich gerne in Kauf. Jan Röhmer und seine Fähigkeiten kenne ich seit Jahren und er geniesst mein volles Vertrauen.»


«Kanton müsste Zahlungen sofort stoppen»

Kantonsräte von links bis rechts kritisieren, wie eng die Ärztegesellschaft, die einen Staatsauftrag erhielt, mit der privaten Firma SOS-Ärzte verbandelt ist.

Recherchen dieser Zeitung zeigen, wie verstrickt die Standesorganisation der Zürcher Ärzte, die Ärztegesellschaft, mit der Privatfirma SOS-Ärzte ist (siehe Text oben). Die Standesorganisation erhält über die nächsten fünf Jahre 36,5 Millionen Franken Steuergeld für den Betrieb einer ärztlichen Telefonzentrale. Einen Teil des Geldes gibt ihre Tochterfirma, die AGZ Support AG, an die SOS-Ärzte weiter. Die beiden Firmen sind auch personell eng verbandelt.

«Diese Verstrickungen wären, sollten sie tatsächlich so zutreffen, inakzeptabel und unredlich», sagt der SVP-Kantonsrat Hans-Peter Amrein (Küsnacht), als er von den Rechercheergebnissen erfährt. «Der Gesundheitsdirektor, Herr Dr. Thomas Heiniger (FDP, Anmerkung der Redaktion) ist gefordert. Der Kanton müsste sofort jegliche Zahlung an die AGZ Support AG stoppen, bis die Sache untersucht und geregelt ist. Ausserdem müsste eine Interimsleitung durch den Kanton eingesetzt werden», so Amrein weiter. Er wurde von der Ratsmehrheit überstimmt, als man Ende 2017, die neue Telefonzentrale zu finanzieren. Ob er nun Anträge im Kantonsrat stellen werde, wisse er noch nicht. «Aber ich werde solche Verstrickungen, sollten sie zutreffen, nicht einfach so akzeptieren.» Für Amrein, der eine Firma führt, die auf die Abklärung von Wirtschaftsdelikten spezialisiert ist, ist schon jetzt klar: Es braucht auch eine Untersuchung durch die Finanzkontrolle des Kantons Zürich.

«Den Bock zum Gärtner gemacht»

Auf der linken Ratsseite schlägt man in eine ähnliche Kerbe wie Amrein. Nämlich Kaspar Bütikofer (AL, Zürich), der in der Gesundheitskommission sitzt. «Ich finde diese Interessenkonflikte hoch problematisch», so Bütikofer auf Anfrage. Er habe schon bei der Abstimmung im Kantonsrat ein schlechtes Bauchgefühl gehabt, weil die SOS-Ärzte eine intransparente Rolle gespielt hätten. «Dass die Verstrickungen aber so offensichtlich sind, hätte ich nicht gedacht», sagt Bütikofer. Er stimmte damals zwar mit Ja, hielt aber in einem Debattenbeitrag fest, dass die SOS-Ärzte nicht bevorteilt werden dürften und dass der Ärztegesellschaft genau auf die Finger geschaut werden müsse. Nun zieht er das Fazit: «Man hat hier den Bock zum Gärtner gemacht.»

Auch in der politischen Mitte, genauer bei den Grünliberalen, gibt es für SVP-Amrein und AL-Bütikofer Zustimmung. Daniel Häuptli (Zürich), der ebenfalls in der Gesundheitskommission sitzt, sagt: «Uns läuten bei solchen Vorgängen die Alarmglocken.» Seine Partei stellte damals einen Antrag, eine Ausschreibung der neuen Telefonzentrale zu starten, fand aber keine Mehrheit. Josef Widler, der für die CVP im Kantonsrat sitzt und Präsident der Ärztegesellschaft ist, die jetzt in der Kritik steht, wehrte sich dagegen, weil es keine anderen Anbieter gebe. «Wenn man sich gegen eine Ausschreibung wehrt, ist eine solche Verflechtung noch gefährlicher», sagt Häuptli. Ein Antrag der GLP, den Auftrag doch auszuschreiben, ist noch hängig. Häuptli: «Nun wird er umso wichtiger.»