Das Volk soll beim Preis des Milizsystems mitreden

NZZ, 25.2.2020

Wie sollen Schweizer Milizpolitiker im 21. Jahrhundert entschädigt werden? Der Zürcher Kantonsrat gab darauf eine Antwort. Heikel ist dabei nicht die Höhe der Entschädigungen, sondern dass die Stimmbevölkerung nicht mitzureden hat.

Die Zürcher Kantonsrätinnen und Kantonsräte stehen im Ruch, Abzocker zu sein, und sie sind daran gar nicht ganz unschuldig. Das grösste kantonale Parlament hat seine Diäten unlängst kräftig angepasst. Je nach Zählweise steigen die Entschädigungen für die 180 Milizpolitikerinnen und -politiker um 50 bis 60 Prozent und liegen im nationalen Vergleich ganz weit vorne. Bisher kamen sie im Schnitt auf rund 18 800 Franken, neu sollen es rund 28 000 Franken sein. Eine «Dreistigkeit» sondergleichen, kritisieren Vertreter der SVP und sehen eine Bedrohung für das Milizsystem.

Tatsächlich ist äusserst fragwürdig, wie der Kantonsrat sich die Entschädigung erhöht hat. Den fatalen Fehler beging er allerdings nicht in diesem Winter, als er die neue Verordnung genehmigte und sie auf den Radar der Öffentlichkeit geriet. Die problematische Weichenstellung hatte schon viel früher stattgefunden und hat weniger mit Geld als mit Corporate Governance zu tun. Was diesen Punkt betrifft, haben die Parlamentarierinnen und Parlamentarier die Entwicklungen der vergangenen Jahre ignoriert und das nötige Fingerspitzengefühl vermissen lassen.

Ein doppelbödiges System

Über die Höhe der Geldsummen kann man unterschiedlicher Meinung sein. Unbestreitbar aber ist, dass das neue Regime gegenüber dem bisherigen einen entscheidenden Vorteil hat: Es ist gesetzeskonform, und das ist angesichts der Vorgeschichte weniger selbstverständlich, als man meinen möchte, obwohl es immerhin um die Entschädigungen für die Mitglieder der gesetzgebenden Gewalt im bevölkerungsreichsten Kanton des Landes geht.

Bisher haben sich die Zürcher Kantonsräte nur ein karges Entgelt zugestanden. Sie entsprachen damit dem traditionellen Bild eines Schweizer Milizpolitikers, der neben Beruf und Familie auch noch Dienst an der Allgemeinheit tut und dies vor allem aus Gemeinsinn und nicht des Geldes wegen. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die Praxis als doppelbödig. Denn ins System eingebaut waren mehrere anrüchige Kniffe, die vor allem einen Zweck hatten: dass von der schmalen Entschädigung möglichst wenig an die Staatskasse und Sozialversicherungen abgegeben werden musste und möglichst viel beim Empfänger ankam.

So genossen die Parlamentarier das Privileg eines stattlichen Steuerabzugs, der auf sie massgeschneidert war. Und sie rechneten ihre Sitzungsgelder teilweise als Spesen ab, womit sie nicht AHV-pflichtig waren. Dies dauerte so lange, bis ein aktiver und ein ehemaliger Kantonsrat ihre Bücher öffneten und der Sozialversicherungsanstalt und den Gerichten gegenüber transparent machten, wie hoch ihre Ausgaben tatsächlich waren. Vor anderthalb Jahren urteilte das Bundesgericht, die als Spesen ausbezahlten Gelder überstiegen die tatsächlichen Auslagen «krass», und stellte die Praxis ab.

Eine Reform ist daher nicht bloss angezeigt, sie ist unausweichlich. Die grosse Frage ist, wie sie ausgestaltet sein muss, damit der Zürcher Kantonsrat auch im 21. Jahrhundert ein Milizparlament bleibt und sein Profil nicht verwässert wird. Leicht wird aus dem Amt ein Nebenerwerb, und die Gefahr nimmt zu, dass damit unter der Hand ein Berufsparlament eingeführt wird, das in Teilzeit tagt. Abgesehen davon, dass ein solcher Übergang kaum mehrheitsfähig wäre, gibt es gute und nicht nur fiskalische Gründe, am Milizcharakter des Parlaments festzuhalten. Gerade eine Gesellschaft im beschleunigten Wandel kann nur profitieren, wenn die Volksvertreter ihr Wissen und ihre Erfahrungen aus ihren Hauptberufen einbringen können. Das System verhindert zudem die Abkapselung der Politikerkaste. Im Alltag führt der Weg zu besser dotierten Ämtern oft über das Rathaus. Wer persönliche Ambitionen hat, darf seine Parlamentstätigkeit auch als Investition in die Zukunft betrachten.

Es ist daher nicht verkehrt, von den Kantonsräten auch in Zukunft eine gehörige Portion Idealismus zu erwarten. Auf der anderen Seite ist auch klar, dass die Tätigkeit angemessen entgolten werden soll. Ein Milizoffizier der Schweizer Armee ist ja auch kein schlechter Milizoffizier, weil er neben dem Dank des Vaterlands und dem Sold noch einen Erwerbsersatz erhält.

Mythen locken auf die falsche Fährte

Bei der Frage, was angemessen ist, sollte man sich vor einigen Mythen in acht nehmen, welche die halbdirekte Demokratie umranken. Einer davon lautet überspitzt, dass Parlamente anders als im Ausland bloss eine untergeordnete Rolle spielen, weil die Regierung letztlich über die tief im helvetischen Selbstverständnis verwurzelten Volksrechte – Initiativ- und Referendumsrecht – direkt kontrolliert werden kann.

Diese Sichtweise ist auch darum so einlullend, weil die kantonale Politik vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es handelt sich um ein grundsätzliches Phänomen, das sich etwa bei der Wahlbeteiligung äussert. Bei lokalen und nationalen Wahlen ist sie jeweils deutlich höher als bei denjenigen im Kanton. Das Parlament hat bisher aber auch herzlich wenig unternommen, um Gegensteuer zu geben und die Wahrnehmung zu verbessern.

Das Bild der Milizparlamente, die im politischen Gefüge bloss Nebenrollen spielen, ist jedoch arg verzerrt. Dies zeigt etwa ein Blick in die Statistik: Von den rund 500 referendumsfähigen Gesetzen, die das Zürcher Kantonsparlament seit 1999 verabschiedet hat, wurde gerade einmal ein Siebtel zum Gegenstand einer Volksabstimmung. Darüber hinaus beschränkt sich das Parlament nicht auf die Rolle, die ihm das New Public Management zugedacht hatte, und gibt nicht nur mit Gesetzen die grossen Linien vor. Es hat auch eine Aufsichtsfunktion und sich dabei ein paar Verdienste erworben. Wäre es nach der Regierung und der Verwaltung gegangen, die Bewirtschaftung von IT, Personal oder Submissionen wäre kaum effizienter geworden, und Steuergelder würden weiterhin versickern.

Gewiss gibt es unter den 180 Kantonsrätinnen und Kantonsräten einige, die nicht ins übliche Schema eines Milizpolitikers passen. Gemeint sind nicht nur die Jungpolitiker, die hauptsächlich studieren und es dank parteiinterner Jugendförderung erstaunlich schnell auf wichtige Posten gebracht haben. Etliche (und längst nicht nur rotgrüne) Fraktionen haben Personal, die im staatlichen Sektor tätig sind, sonst noch ein öffentliches Amt bekleiden oder für Interessensverbände weibeln. Dominiert wird der Rat nicht von Unternehmern oder Freiberuflern.

Man mag das beklagen, es ist aber letztlich Ausdruck davon, dass das Milizsystem an Attraktivität eingebüsst hat. Die Gründe sind bekannt: Das Prestige hat abgenommen, Arbeitgeber sind weniger grosszügig, die sozialen Rollenverständnisse etwa in der Familie haben sich geändert.Auch die Gemeinden kämpfen mit diesem Phänomen, und manche geizen auch darum nicht, wenn sie ihre Behördenmitglieder entschädigen. Grössere Zürcher Agglomerationsstädte und -gemeinden entschädigen ihre Präsidenten mit gegen 100 000 Franken jährlich.

Die Kantonsräte sollen nach neuem Reglement im Schnitt rund 28 000 Franken aus Grundpauschale und Sitzungsgeldern erhalten, die einen mehr und die anderen weniger. Das Geld muss versteuert werden und ist AHV-pflichtig. Hinzu kommen eine Spesenpauschale plus ein 1.-Klass-Abonnement des Zürcher Verkehrsverbunds. Zweifellos ist es viel Geld, und in manchen Fällen kommt das Mandat somit einem Nebenerwerb gleich. Angesichts der beschriebenen Umstände und Anforderungen – der Zeitbedarf wird mit einem 30- bis 40-Prozent-Pensum beschrieben – ist die Summe aber massvoll und vertretbar. Dies gilt auch mit Blick auf andere Kantone. Selbstverständlich beträgt die Vergütung in den beiden Appenzell einen Bruchteil. Andere Wirtschaftskantone wie Basel, Waadt oder Genf haben aber Bezüge in ähnlicher Grössenordnung wie Zürich.

Die Sensibilität ist stark gestiegen

Falsch lag das Parlament hingegen mit dem Entscheid, seine Diäten selber abschliessend festzulegen und sie nicht dem fakultativen Referendum zu unterstellen. Seit der letzten Revision 1999 hat die Sensibilität für Fragen der Entschädigungen und der Legitimation stark zugenommen. Absprachen im kleinen Zirkel stehen schnell im Verdacht der Selbstbedienung. Zu spüren bekamen dies etwa die hiesigen Grossunternehmen mit der Annahme der «Abzocker»-Initiative. Seither müssen die Verwaltungsräte und Geschäftsleitungen börsenkotierter Unternehmen ihre Vergütungen der Generalversammlung vorlegen.

Analog hätte der Kantonsrat die Möglichkeit schaffen sollen, dass diejenigen, die er vertritt, über die Gelder abstimmen könnten. Er hätte die Legitimation der Entschädigungen erhöht und seine Glaubwürdigkeit gestärkt. Das Gegenargument, dass es dafür zu spät sei und die Idee schon viel früher hätte eingebracht werden sollen, erweist sich als Rohrkrepierer. Denn vor einem Jahr, als der Rat das Kantonsratsgesetz mit der problematischen Klausel guthiess, war klar, dass er als Nächstes seine Entschädigungen überarbeiten würde. Nicht die Forderung kommt zu spät; das Parlament hätte sie antizipieren und das Geschäft referendumsfähig machen sollen.

So aber wurde der richtige Zeitpunkt verpasst. Dass jetzt ein paar Fraktionen signalisierten, für die nächste Erhöhung könnten sie sich ein fakultatives Referendum vorstellen, macht die Sache nicht besser – im Gegenteil. Denn der Aufschlag ist stattlich. Eine nächste Debatte wird realistischerweise erst in ein paar Jahren stattfinden.

Noch können sich die Parlamentarier nicht über die neuen Vergütungen freuen. Hans-Peter Amrein, Mitglied der SVP-Fraktion, hat die neue Verordnung beim Verwaltungsgericht eingeklagt. Das mag den einen oder andern ärgern, doch sie sollten sich nicht grämen. Heisst das Gericht die Beschwerde gut, eröffnete dies die Chance, ein fakultatives Referendum einzubauen und somit ein ärgerliches Versäumnis nachzuholen.